oder: Annahme versus Tatsache
Begleite mich in einen Austausch unter Kollegen.
Die Geschlechter habe ich ohne tiefere Absicht zugeordnet, denn das läuft in alle Richtungen geschlechtsneutral so ab.
Ein beliebiger Wochentag an einem beliebigen Schreibtisch in einem beliebigen Büro in Deutschland – PLING – neue e-mail:
Hallo Frau Beispiel,
können Sie mir bis heute Abend nochmal den Report des letzten Monats zusenden? Es scheint noch die Umsatz-Auswertung zu fehlen.
Mit freundlichen Grüßen,
Herr Mustermann
Solche oder ähnliche Mails erreichen uns jeden Tag – ich zumindest kenne sie zur Genüge 😉
Umso erstaunlicher aber, wenn wir uns einmal überlegen, wie unterschiedlich wir manchmal auf solche an sich alltäglichen und banalen Anfragen reagieren.
An einem „guten Tag“ würde ich die Mail öffnen, lesen und als Antwort (ich nenne sie mal hier Antwort A) den Bericht einfach nochmal anhängen, mit dem Verweis, dass der Sales-Report im 2. Tabellenblatt enthalten ist. Ich weiß ja, dass der Empfänger häufig die Mails am smartphone liest und das da Tabellen mit mehreren Tabellenblättern oft nicht ideal angezeigt werden.
Außerdem sind dann die Mails häufig nicht in den richtigen Ablageordnern einsortiert – kann also schon mal vorkommen, dass da im Eifer des Gefechts, unter Zeitdruck und in der Mail-Flut heutzutage was verloren geht.
Also Antwort A:
Hallo Herr Mustermann,
anbei gerne nochmal die gewünschte Auswertung.
Die Umsatz-Auswertung finden Sie im Tabellenblatt / Register “ Sales-Report“.
Sollten Sie noch weitere Infos benötigen, melden Sie sich gerne.
Mit freundlichen Grüßen
Frau Beispiel
Läuft – Fall erledigt – abgehakt – next topic!
An einem „schlechten Tag“ allerdings, an dem ich hochgradig genervt bin und mich ultra-gestresst fühle, könnte das ganz anders aussehen…
Mail öffnen und entnervt mit den Augen rollen – na typisch, hat sein Zeug einfach nicht im Griff, der Mustermann. Ich bin doch nicht seine Sekretärin! Und was will er damit eigentlich andeuten? Dass ich den Bericht nicht rechtzeitig abgeliefert habe? Und dass ich schlampig / nicht vollständig gearbeitet habe? Spinnt der?
Also Antwort B:
Guten Tag Herr Mustermann,
wie Sie aus der beiliegenden Mail (vom Mittwoch voriger Woche, 11.47 Uhr) ersehen können, hatte ich Ihnen den vollständigen Bericht bereits letzte Woche termingerecht zukommen lassen – inklusive der Sales-Auswertung, die Sie in der hier NOCHMALS beiliegenden Datei im 2. Registerblatt finden.
Mit freundlichen Grüßen
Frau Beispiel
Und jetzt stellen wir uns die „Gegenseite“ vor:
Szenario 1: der Absender, Herr Mustermann, hatte keinerlei tiefschürfende Gedanken, als er Frau Beispiel angeschrieben hat. Ihm lief einfach die Zeit davon, er musste seinerseits den Bericht fertig machen und hat einfach auf die Schnelle die Datei nicht gefunden, die er brauchte. Da er Frau Beispiel als gut organisierte Kollegin kennt, die immer pünktlich die Daten liefert, die ohne größeren Aufwand die benötigten Daten heraussuchen und zur Verfügung stellen kann, war das für ihn schlicht die einfachste und schnellste Lösung für sein akutes Problem.
Jetzt kommt Antwort A – alles gut, Herr Mustermann ist happy dass er alles hat was er braucht und weitermachen kann. Bei ihm verstärkt sich das Bild, dass er es hier mit einem kompetenten, hilfsbereiten und gut organisierten Mitarbeiter zu tun hat, auf den er sich jederzeit verlassen kann
Alternativ: jetzt kommt Antwort B
…und Herr Mustermann, sich keiner Schuld bewusst, denkt sich: WTF? Ja ist es jetzt schon zu viel verlangt, dass meine Mitarbeiter/Kollegen mich mit so einer Kleinigkeit unterstützen? Das klingt ja so, als ob der oder die mich für einen unorganisierten, vertrottelten Vollpfosten hält!
Ich glaube wir alle können uns leicht vorstellen, dass das dem Verhältnis zwischen Frau Beispiel und Herrn Mustermann nicht sehr zuträglich sein wird. Und als „Krönung“ des Austausches sind jetzt beide Parteien verärgert.
Szenario 2: Herr Mustermann war einfach echt zu faul, sich die Mail nochmal raus zu suchen und ist außerdem der Meinung, dass ein bisschen Druck nicht schadet – die Mitarbeiter / Kollegen in der Defensive zu halten ist ja im Grundsatz auch mal eine gute Ausgangsbasis für die eigenen Macht.
In diesem Fall ist es jedoch völlig egal, ob Antwort A oder B zurückkommt, denn entweder wird sich im Fall A Herr Mustermann dazu beglückwünschen, dass er es mal wieder geschafft hat, jemand anderen die Arbeit machen zu lassen oder im Fall B dazu, dass es ihm mal wieder gelungen ist, den Kollegen / Mitarbeiter in die Defensive zu drängen.
Wer in JEDEM SZENARIO bei Antwort B also definitiv „verloren“ hat, ist Frau Beispiel – denn die verbrauchte Energie, der noch weiter angestachelte Frust und natürlich auch die Zeit, die sie für Antwort B meiner Erfahrung nach eingesetzt hat, gehen ausschließlich zu ihren Lasten.
Wenn Frau Beispiel nämlich so ein bisschen ist wie ich, hat sie die Mail mindestens 3x hingerotzt, umformuliert und neu geschrieben, bis der richtige Grad aus Ärger, Frust und einem Mindestmaß an oberflächlicher Höflichkeit gefunden war, vor sie dann tatsächlich rausging.
An dieser Stelle eine Anmerkung, denn du fragst dich vielleicht ob ich dafür plädiere, dass wir offensichtliche Machtspielchen einfach schweigend hinnehmen?
Nein, natürlich nicht! (und besonders nicht, wenn der Mail-Verteiler unverhältnismäßig groß oder hoch aufgehängt ist und der Kollege bekannt ist für entsprechende Verhaltensmuster!)
Aber wie häufig sehen wir „Manipulation“, wo keine ist? Und schwächen dann durch unsere Reaktion auf Grund der Fehlinterpretation unseren eigenen Status!
Wissen wir denn, wie oft unsere Mails, geschrieben ohne jeglichen Hintergedanken, ähnliche Reaktionen auf der Gegenseite auslösen und wie oft kommt es vor, dass wir uns dann über eine ruppige Antwort wundern und uns dadurch ebenfalls in die Negativ-Energie ziehen lassen?
Was haben wir denn zu verlieren,
- wenn wir als Grundhaltung, als „default setting“ sozusagen, im Zweifelsfall die positive Annahme wählen?
- wenn wir davon ausgehen, dass es nichts zu „vermuten“ gibt und nur unsere eigene innere Einstellung den Kontext bestimmt, auf den wir unsere Reaktion aufbauen?
- wenn wir „im Zweifel für den Angeklagten“ entscheiden und uns einfach an die Sachbotschaft halten, statt eine Absicht oder verborgenen Botschaft hinein zu interpretieren?
Wir könnten uns ja auch ab und zu mal kurz selbst wieder einen „Positiv-Boost“ verabreichen, wenn wir mal wieder vor so einer Mail sitzen und gerade den 3. Versuch einer geharnischten aber nicht zu offensichtlich beleidigenden Formulierung ausarbeiten.
Mein Tip:
Vom Schreibtisch aufstehen und ein paar Schritte machen, vielleicht auf die „Besucherseite“ des Schreibtisches treten, einen Blick aus dem Fenster werfen – im wahrsten Sinne des Wortes „die Perspektive wechseln“. Drei Mal tief ein- und wieder ausatmen – und dann auf der Sachebene zurück zum Text.
Ich frage mich dann so neutral wie möglich: was genau ärgert mich denn jetzt gerade eigentlich so? Ist es wirklich diese mail?
Oder ist das einfach nur der Tropfen, der das „Schlechte Laune“-Fass zum Überlaufen brachte?
Wenn ich einmal den Absender und die aktuelle Situation außer Acht lasse:
wie sehr unterscheidet sich der Wortlaut, der Schreibstil, der Inhalt tatsächlich von meinen eigenen mails?
Spätestens dann wird mir meist klar, dass ich mich von meiner persönlichen aktuellen Emotion zur Interpretation eines davon unabhängigen Sachverhaltes habe hinreißen lassen.
Ja, es gibt natürlich auch unter unseren Kollegen solche, mit denen wir nicht gut klarkommen, die uns irgendwie „gegen den Strich“ reiben (dazu ein anderes Mal mehr :-)).
Aber mal ehrlich: wenn wir uns da in etwas reinsteigern, Aggression oder Frustration aufbauen, dann bekommen wir das Magengeschwür und nicht der Kollege, über den wir uns ärgern. Der wird das in 99% aller Fälle noch nicht mal bemerken. Oder falls doch, wird es ihn vermutlich nicht interessieren oder sogar amüsieren.
Und übrigens: wer sich diese „Mini-Reflektion“ zur Gewohnheit macht, spart sich jede Menge Nerven und – noch viel cooler – jede Menge Zeit, weil er solche „Stein im Schuh“-Mails schnellstmöglich sachlich aus dem Postfach und energetisch aus dem Kopf bekommt.
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